Im Atelier mit
Jesse Schlesinger
Wie der Künstler und Holzbearbeiter sein Atelier in San Francisco nutzt, um sein Handwerk zu verfeinern und nach Materialien für seine Heimartikel, Möbel und neuen, öffentlichen Kunstprojekte sucht
Verfasst von: William Bostwick
Fotos von: Mariko Reed
Veröffentlicht: 12. April 2024
Auf dem Dach des Lagerhauses trocknet der Regen der vergangenen Nacht in der winterlichen Sonne, die durch die Oberlichter des zweiten Stockwerkes fällt und die Gemeinschaftsküche mit ihren 3,65 Meter hohen Schichtholzwänden erwärmt, in der Jesse Schlesinger nach dem Schwimmen und vor der Arbeit einen Kaffee trinkt und über eines seiner Lieblingsthemen spricht: Essen.
Als ein gebrochenes Handgelenk seiner beginnenden Laufbahn als Maler ein Ende setzte, verschaffte sich Schlesinger dank seiner Überredungskunst einen Job als Lieferant für Dirty Girl, einem Bio-Bauernhof in Santa Cruz. „Ich habe geschwindelt und behauptet, ich könne ein Schaltgetriebe fahren", sagt er. Kurz darauf steuerte er den Ford Ranger des Hofes mit Gipsarm und in rasanter Geschwindigkeit durch die Hügel von San Francisco, um die neusten Restaurants der kalifornischen Stadt mit Radieschen und Kopfsalaten zu beliefern. Schlesinger wuchs im Südosten auf – Kentucky, Maryland, South Carolina. Seine Mutter, ein Fan von Grateful Dead, unterrichtete an einer Waldorfschule und sein Vater war Schreiner. Mit anderen Worten: Er kannte sich mit Tofu aus. Aber das hier war etwas anderes. „Die Köche waren begeistert, wenn ich auftauchte, und zeigten mir ihre Kreationen", sagt er. „Ich erinnere mich, dass ich Tintenfisch-Pasta probiert habe. Was ist das denn? Die sind ja schwarz!"
Einige Jahre später, nachdem er verschiedene kulinarische Ausbildungen absolviert hatte, landete Schlesinger wieder an einer Kunstschule, dem California College of the Arts (CCA). Dort erlernte er alles, was er konnte – Metallbearbeitung, Grafikkunst, Malerei – und kehrte dabei immer wieder zu der Frage nach Raum und authentischen Materialien zurück. Schließlich fand er zurück zu seinen Wurzeln und zur Holzbearbeitung, die er von seinem Vater erlernt hatte.
Seine ersten Projekte waren für Freunde aus der Gastronomie: maßgefertigte Stühle für Outerlands, ein rustikales Suppen- und Brathähnchen-Lokal am Strand sowie die Innenausstattung der Bar Tartine, einem Ableger mit gehobener Küche von San Franciscos legendärem Spezialisten für Sauerteig. Ein Schwätzchen am Straßenrand mit Tartines Bäcker Chad Robertson im Jahr 2011 führte zu einem grundlegenden Umbau des Restaurants, das 2006 eröffnet worden war und 10 Jahre später wieder geschlossen wurde. „Noch nie hatte ich etwas Derartiges entworfen. Aber wir haben einfach alle unsere Freunde zusammengetrommelt und alles gemacht, die Regale, die Tischwäsche, die Teller und Schüsseln."
Als das Restaurant geschlossen wurde, rettete Schlesinger Tartines verwitterte Rotholz-Regale, die jetzt die Schichtholzwände seines Ateliers säumen. Der Raum ist ein kleiner Kubus, eingereiht in 34 weitere, und gehört zu den Minnesota Street Project Studios, einem von drei Lagerhäusern in San Franciscos Stadtteil Dogpatch, die in Kunsträume umgewandelt wurden. Das Architekturbüro Jensen entkernte und sanierte die ehemalige Siebdruckfabrik. Schlesinger stattete die Räume mit maßgefertigten Möbeln, Arbeitstischen und natürlich mit einer Gemeinschaftsküche aus.
„Das sind die Regale", sagt er und streicht mit der Hand die westliche Wand des vollen, aber nicht überfüllten Raums hinauf. Während man in den meisten Küchen die üblichen Draht-Regale und Schränke in Industriequalität findet, verfügte die Bar Tartine über ein speziell angefertigtes System aus Nischen und Spalten. „Das Silberbesteck wurde hier aufbewahrt. In diesem Regal lag das Brot und an der kleinen Stelle darunter wurden die Krümel aufgefangen. Dies war die Speisekammer, für alles Eingelegte und Eingemachte." Jetzt nehmen Bücher, Gegenstände und Werkzeuge den Platz ein, z. B. japanische Meißel und ein Treiber mit Handkurbel zum Anbringen von Messingverschlüssen, den Schlesinger auf einer Werft in Alameda gefunden hat.
Jedes Regalbrett verkörpert Schlesingers kreativen Prozess. Spielzeuglaster aus Blech von den Philippinen, Glocken eines Pferdezaumzeugs aus Japan, Bootleg-Kassetten einer Silvestershow der Deads von 1992. Ein Stapel Suppenschüsseln, eine Gruppe von Kerzenhaltern. „Kerzenhalter haben ein einfaches Design mit wenigen Parametern, und doch ist jeder anders gestaltet,” sagt er. Außerdem symbolisieren sie etwas: „Den Gedanken der Epiphanie, die Möglichkeit der Erleuchtung."
Die Erleuchtung kommt jeden Sonntagmorgen auf dem Flohmarkt von Alemany, wo er mit offenen Augen und Ohren umherwandert und nach einer guten Geschichte Ausschau hält. „Es ist wie eine Übung im Sehen,” sagt er. „Es ist so ähnlich, wie wenn man Kunstgeschichte studiert. Grundsätzlich ist alles inspirierend. Aber je mehr man hinschaut, desto mehr wird einem klar, was resoniert."
„Man muss an das neue Leben denken, das der Gegenstand bekommt. Rotholz wird versilbern, Bronze wird nachdunkeln, alle Verschlüsse werden noch funktionieren."
Schlesinger holt ein Notizbuch mit Arbeitsskizzen für ein neues Design hervor, das auf dem klassischen Adirondack Stuhl basiert. Er räumt einen Platz auf einem überfüllten Tresen frei und schlägt eine überfüllte Doppelseite auf, auf der mit Tinte die Umrisse von Zentimeter großen Quadraten gezeichnet sind, Stuhl an Stuhl, ein Flohmarkttisch voller Möglichkeiten und Ideen. „Der hier ähnelt einem Naoto Fukasawa", sagt er. „Dieser hier ähnelt dem Rietveld Crate Stuhl. Ich habe das Design aufgegriffen, die Abmessungen etwas eleganter und die Armlehnen schwebend gestaltet. Aus einem ‚Ich glaube, das habe ich schon einmal gesehen' wird ein ‚Oh, das erkenne ich nicht!'." Der Stuhl ist das Herzstück seiner neuen Produktlinie an Heimartikeln Joye, ein kommerzieller Ableger seiner Tätigkeit als Künstler und Innenraumgestalter, die Schlesinger kürzlich ins Leben gerufen hat.
Auf zwei (relativ) freien Flächen der Arbeitsplatte befindet sich ein Miniatur-Wald aus Formen, sieben oder zehn Zentimeter hohe Modelle öffentlicher Skulpturen und Bänke, die bald entlang der Bahnlinie N-Judah am Ocean Beach und im SFMOMA in der Innenstadt aufgestellt werden sollen. Sie bestehen aus Beton, Bronze und wiedergewonnenem Rotholz und sind so konzipiert, dass sie im Laufe der Zeit verwittern. „Man muss an das neue Leben denken, das der Gegenstand bekommt,” sagt Schlesinger. „Rotholz wird versilbern, Bronze wird nachdunkeln, alle Verschlüsse werden noch funktionieren."
Der klassische Eames Shell Stuhl aus Schlesingers persönlicher Sammlung passt gut zu einem neuen Eames ESU 1x1.
Zu hören, wie er seine Arbeit beschreibt, ist, als würde man ihm bei der Arbeit zusehen: ein Prozess, bei dem verschiedene Einflüsse, Ideen und Menschen vereint und zu etwas Unerwartetem verwoben werden. Es ist die komplexe und manchmal unbeschreibliche Magie der Kultivierung und Fermentierung, die sich zu einer Blüte entwickelt und aus der eine Zapfenverbindung, eine Kerze oder ein Brotlaib von einfacher Schönheit entsteht.