Stellen Sie sich ein leeres Blatt Papier als eine Baustelle vor – dann verstehen Sie Irving Harpers Ansatz im Grafikdesign. Wie das Schweizer Magazin Graphis 1953 in einem Bericht über Harpers Grafikarbeiten für das Nelson Office feststellte, ist sein Vorgehen durchaus mit dem eines Architekten zu vergleichen. „Das Blatt, auf dem gedruckt wird, behandelt er wie das Land, auf dem gebaut wird ... Bildmaterial, oft in Fragmente zerteilt, wird nach asymmetrischen Harmonien angeordnet.“
Während seiner Zusammenarbeit mit dem Designer George Nelson im Jahr 1947 und auch in seiner Zeit als Design Director für das Nelson Office bis 1963 brachte Harper visuelle Kohärenz und Energie in all seine Werke ein, von Möbeln über Werbegrafiken bis zu Uhren. Es sind jedoch die Grafikarbeiten, die sein Verständnis von Design als eine ganzheitliche Erfahrung am deutlichsten zum Ausdruck bringen. Ob er nun zweidimensionale Print-Anzeigen mit dreidimensionalen räumlichen Gesten belebte, Gebrauchsgegenstände wie eine Uhr in eine grafische Abstraktion verwandelte oder einem schlichten typografischen Design die Textur von Textilgewebe verlieh – alles, was er entwarf, besaß eine tiefere Dimension.
Harper absolvierte ein Architekturstudium am Brooklyn College und der Cooper Union in seiner Heimatstadt New York. Seine erste Anstellung als Architekt fand er bei Morris B. Sanders, der eingeladen worden war, den Arkansas-Pavillon für die Weltausstellung 1939-40 zu entwerfen. Sanders beauftragte Harper mit der Gestaltung der Inneneinrichtung und lenkte seine Laufbahn dadurch unbeabsichtigt in eine neue Bahn. In einem Interview mit Julie Lasky für ihr Buch Irving Harper: Works in Paper erinnerte sich Harper: „,[Ich] fand Design sehr viel interessanter, weil es dynamisch war.‘ In einem Architekturbüro ,ist es schwer, ganz nach oben zu kommen.‘ Und ,Designarbeit ist abwechslungsreicher. Alles ist neu. Man lernt viel mehr.‘“
Harpers Weg zu Herman Miller
Harpers frühe Arbeiten für Sanders und anschließend Gilbert Rohde – den Illustrator und Produktdesigner, der amerikanisches Möbeldesign nicht zuletzt durch seine Tätigkeit für Herman Miller und Heywood-Wakefield in das 20. Jahrhundert führte – festigten seinen Rang als Designer. Zudem brachten sie ihm einen Job im Nelson Office ein. Ernest Farmer, ein alter Kollege aus Rohdes Büro, war zu Nelson gewechselt und überzeugte das Unternehmen, Harper als Grafikdesigner einzustellen. Harper arbeitete im Nelson Office auch als Möbel- und Industriedesigner, doch es sind seine Werbegrafiken und darunter vor allem die Entwürfe für Herman Miller (wo George Nelson damals als Design Director tätig war), die ihm oft namentlich zugeordnet wurden.
Das Herman Miller Logo
Als Nelson als Design Director für Herman Miller seine allererste Möbelkollektion in Angriff nahm, sollte er auch die begleitenden Grafiken und Werbemittel erstellen, darunter ein neues Markenzeichen zum Heißprägen in die Holzmöbel. Nelson hatte zunächst Paul Rand, einen der meistgefragten Grafikdesigner seiner Zeit (und hoch anerkannt für seine Logo-Designs wie z. B. das IBM-Logo), mit der Gestaltung des Markenzeichens beauftragt. Doch als Rand wieder absagte, wurde der Auftrag intern weitergegeben und landete letztendlich bei Harper.
Die erste Anzeige für die Kollektion sollte 1946 in Druck gehen, noch bevor es überhaupt Möbel gab, die man fotografieren oder zeichnen konnte. Zudem war der Druck auf zwei Farben begrenzt.Doch wie jeder guter Designer oder Architekt machte sich Harper diese Einschränkungen zunutze und kreierte ein monumentales, rotes M mit geschwungenen Linien vor einem schwarzweiß gemaserten Hintergrund –das Herman Miller Logo war geboren.Harper beschrieb dies später als „das billigste Markenzeichen des Jahrhunderts“, doch trotz der bescheidenen Anfänge hat das Original-M (heute ohne die Holzmaserung) seine Beständigkeit bewiesen.