Auf Wachstum ausgerichtet
Wie schafft man ein Living Office? Um diese Frage beantworten zu können, folgte WHY dem Weg eines Unternehmens von einem Hauptsitz, der sein Wachstum behinderte, zu einem Arbeitsplatz, an dem Mitarbeiter und das Geschäft aufblühen konnten. Dies ist der erste Teil einer Serie.
Verfasst von: Mindy Koschmann
Grafik von: Geordie Wood
Menschen sind der wichtigste Aktivposten einer jeden Organisation. Dennoch sind viele Büros heute nicht auf die Unterstützung ihrer Bedürfnisse und Tätigkeiten ausgerichtet. Mit Living Office bietet Herman Miller eine neue Art von Arbeitsplatz, der um ein auf Forschung basierendes Verständnis von Menschen, ihrer Arbeit und der Arbeitsgeräte, die sie für ihren Erfolg benötigen, herum gestaltet wurde.
Es war erst 11:00 Uhr an einem Donnerstag am Hauptsitz des mit Rasierprodukten handelnden Startups Harry’s, doch die Geräusche hätten auch um 23:00 Uhr aus einer der vielen benachbarten Bars oder Restaurants im New Yorker Viertel Soho kommen können. Die Wände des Konferenzraums, in dem Scott Newlin, Leiter des Produktdesigns, und Jenni Lee, Leiterin von Marke und Marketing, zusammengekommen waren, reichten nicht bis zur Decke. Folglich drang das Geräusch aus dem benachbarten Raum – ein höhlenartiger Loft mit Reihe um Reihe von Menschen, die nebeneinander auf Bänken arbeiteten – zu ihnen vor. Die exponierten Lüftungsleitungen über ihren Köpfen röhrten, ein seit langem defektes Fenster klappte auf und zu, auf und zu.
An diesem Morgen spät im Dezember war das Chaos gleichzeitig ablenkend und spannend, ein Zeichen für den raschen Aufstieg des Unternehmens zum Erfolg. Innerhalb von nur zwei Jahren war Harry's von zwei Männern mit einer Idee, mit der sie die Welt der Rasur umkrempeln wollten, zu einem Unternehmen mit 65 Mitarbeitern und über 500.000 Kunden – Tendenz steigend – angewachsen.
Das Wachstum des Unternehmens war so schnell verlaufen, dass seinem Umfeld notwendigerweise nur nachrangige Bedeutung zugemessen wurde. In dem fast 280 m² großen überfüllten offenen Raumplan starrten Geschäftsanalysten mit zugekniffenen Augen auf Kalkulationstabellen, während neben ihnen gesprächige Mitarbeiter des Kundendiensts arbeiteten und sich Produktmuster sowie Verpackungsmaterial bis in den Empfangsbereich ausbreiteten. Jeder schien darauf konzentriert, zum Gedeihen von Harry's beizutragen, doch dieses gerammelt volle Büro hemmte im Endeffekt das Wachstumspotenzial des Unternehmens.
„Bei uns stellte sich jemand vor, der das Unternehmen richtig mochte, doch er meinte, er könnte wohl nicht in diesem Raum arbeiten“, erinnerte sich Newlin. „Für mich war das eine wichtige Aussage. Wir müssen unsere Räumlichkeiten als Instrument nutzen können, um auszudrücken, dass dies ein cooler Arbeitsplatz ist, dass wir die besten Mitarbeiter wollen und dass wir das beste Umfeld geschaffen haben, um diese Mitarbeiter zu uns zu holen.“
Die Enge beschränkte nicht nur Harry’s Möglichkeiten, die Art von talentierten Mitarbeitern anzuziehen, die es zum Wachsen benötigte, sie schränkte auch die Zufriedenheit der Mitarbeiter, ihre Effizienz und letztlich auch ihre Leistung ein. Stunden gingen mit E-Mails verloren, die zur Planung von Meetings im einzigen Konferenzraum hin und her geschickt wurden. Für Privat- oder Telefongespräche mussten die Mitarbeiter in den Gang oder ins Treppenhaus gehen.
Es war eindeutig an der Zeit für einen Umzug. Mitte 2014 fand Newlin mit seinem Team eine über 2400 m² große Räumlichkeit in Soho und engagierte das Architekturbüro Studio Tractor aus Brooklyn. Als Ausstatter wurde WB Wood verpflichtet. Grund dafür war seine Arbeit mit Herman Miller zur Schaffung von Living Offices für Kunden. Living Office basiert auf Untersuchungen über Menschen und ihre Arbeit. Somit schien es die natürliche Lösung für Harry’s, die auf Daten von häufig durchgeführten Erhebungen und persönlichen Befragungen baut, um sicherzustellen, dass Kunden und Mitarbeiter zufrieden sind.
Herman Miller beschäftigt sich schon lange mit dem Design für Menschen und ihren sich weiterentwickelnden Bedürfnissen bei der Arbeit. In den 1960er-Jahren kam Robert Propst nach Untersuchungen über die Funktionsweise der Welt der Arbeit zu folgender Schlussfolgerung: „Das Büro von heute ist eine Einöde. Es untergräbt Vitalität, blockiert Talent, vereitelt Leistung.“ Seine Lösung nannte er Action Office, eine adaptives System, das dazu passte, wie die Menschen wirklich arbeiteten, und das problemlos geändert werden konnte, wenn sich die Bedürfnisse von Menschen und Organisationen weiterentwickelten.
Heute arbeitet Herman Miller gemeinsam mit Vordenkern und Designern daran, ein tiefer reichendes Verständnis des Menschen auf den Arbeitsplatz von heute anzuwenden. Dabei schälten sich sechs grundlegende Bedürfnisse heraus, die allen Menschen gemein sind: Zweck, Zugehörigkeit, Leistung, Autonomie, Status und Sicherheit. Sind diese Bedürfnisse am Arbeitsplatz erfüllt, sind die Mitarbeiter besser in der Lage, zum Erfolg ihrer Organisation beizutragen.
Herman Miller schuf Living Office in dem Wunsch, Organisationen zu helfen, grundlegende menschliche Bedürfnisse besser zu erfüllen. Unter Nutzung des forschungsbasierten Living Office Discovery Process℠ helfen speziell geschulte Experten Organisationen dabei, ihren Zweck, ihr Wesen und ihre Tätigkeiten – oder anders ausgedrückt: was sie der Welt anzubieten haben, wer sie sind und was ihre Mitarbeiter machen – zu bestimmen. Mit Hilfe der Erkenntnisse aus diesem Prozess kann ein Living Office geschaffen werden, das die einzigartige Kultur einer Organisation widerspiegelt.
Bei Harry's wurde dieser Prozess von den Living Office-Experten James Cesario und Jennifer Abbattista geleitet. Über zwei Tage hinweg trafen sich Mitarbeiter in Fokusgruppen im einzigen Konferenzraum des Unternehmens – eine gute Erinnerung daran, warum es ein neues Büro benötigte.
ZWECK-GEBUNDEN
Befeuert von einem Mittagessen begannen die Gruppen mit einer Diskussion über ihren Zweck bzw. ihre Mission sowie über die Ideen, Produkte und Dienste, die den von ihnen gebotenen außergewöhnlichen Wert definieren. Dieser erste Schritt ist von großer Bedeutung, da er Organisationen bei Entscheidungen über Designinvestitionen hilft, die sie bei der Erfüllung ihres Zwecks unterstützen.
Cesario merkte an, dass dies für viele Unternehmen eine echte Herausforderung ist, die Stunden an Arbeit in Anspruch nimmt. Harry's fiel es leichter, den Unternehmenszweck zu formulieren: eine tolle Rasur zu einem fairen Preis.
„Wir waren uns schon immer über unsere Richtung einig, von den Gründern bis hin zum Neueinsteiger vom Vortag“, so Newlin. „Ich weiß nicht, wie einzigartig das ist, doch für mich ist das absolut großartig, da wir von 0 auf 100 nur eineinhalb Jahre brauchten.“
„Bei uns stellte sich jemand vor, der das Unternehmen richtig mochte, doch er meinte, er könnte wohl nicht in diesem Raum arbeiten. Für mich war das eine wichtige Aussage. Wir müssen unseren Raum als Instrument nutzen können, um auszudrücken, dass dies ein cooler Arbeitsplatz ist.“
- Scott Newlin
VOM WESEN DER DINGE
Der zweite Schritt des Discovery-Prozesses ist die Bestimmung des Wesens, d. h. der einzigartigen Werte und Merkmale, die ein Unternehmen von anderen unterscheiden. Versteht eine Organisation ihr Wesen, hilft ihr das, Arbeitsplätze zu schaffen, die das ausdrücken, wofür sie steht und helfen, dorthin zu gelangen, was sie werden will.
Für diese Aufgabe zeigten die Fokusgruppen mit farbigen Punkten auf diversen Charakterspektren, wo sie das Unternehmen sahen. Waren sie eher formell oder informell? Unabhängig oder voneinander abhängig? Einförmig oder vielfältig?
Die Punkte häuften sich in der Nähe der Begriffe „informell“, „anpassungsfähig“ und „selbstgesteuert“ – alles Merkmale, die den aktuellen Wesenszustand von Harry's beschrieben. Gleichzeitig häuften sich auch am anderen Ende des Spektrums Punkte bei den Wörtern „formell“, „konsistent“ und „gesteuert“. Diese Punkte standen für den gewünschten zukünftigen Zustand: ein strukturierteres, stärker durchorganisiertes Unternehmen in einem strukturierten, organisierten Büro.
Derartige Erkenntnisse sind aussagekräftig, da viele Unternehmen heute davon ausgehen, dass ein offenes Büro das Allheilmittel zur Verbesserung von Engagement, Attraktivität und Bindung sei. Laut Abbatista gilt das nur für bestimmte Unternehmen.
„Jüngere Unternehmen sehnen sich normalerweise nach ein bisschen mehr Struktur, während etabliertere Firmen die Nadel häufig in die andere Richtung bewegen müssen“, erklärte Abbatista. „Es geht darum, die Mitarbeiter zu verstehen und einen Ort zu schaffen, der für sie funktioniert.“
TÄTIGKEITEN IM FOKUS
Der dritte Schritt des Prozesses, die Priorisierung der Arbeitstätigkeiten, ist von entscheidender Bedeutung, da er einer Organisation hilft, ein klares Bild von der Arbeit zu erhalten, die die Mitarbeiter und Gruppen Tag für Tag erledigen, und ob die Räumlichkeiten diese Tätigkeiten unterstützen oder nicht. Sobald bekannt ist, welche Tätigkeiten die höchste Priorität besitzen, kann man wichtige Entscheidungen über die Zuteilung von Bürofläche treffen, damit die Mitarbeiter und ihre Arbeit so gut wie möglich unterstützt werden.
Bei Harry’s entwickelten sich in diesem Prozessteil die meisten Diskussionen.
„Wir sprachen mit den Leitern aller Teams – von der Technik über den Kundendienst bis hin zum Grafikdesign“, erinnerte sich Cesario. „Diese Gruppen haben natürlich unterschiedliche Sichtweisen der Arbeit. Sie haben unterschiedliche Bedürfnisse und hier bekamen sie die Gelegenheit zu argumentieren, was sie brauchen, um ihre Arbeit bestmöglich zu erledigen.“
Um die Bestimmung der Art der geleisteten Arbeit zu erleichtern, bietet Living Office einen anhand globaler Untersuchungen erstellten Rahmen von zehn klar abgegrenzten kollaborativen und individuellen Tätigkeiten. Die Fokusgruppen füllten mit bunten Haftnotizen eine Matrix von Arbeitsweisen aus, in der Tätigkeiten niedriger und hoher Priorität bestimmt wurden, die von den existierenden Räumlichkeiten unterstützt wurden oder auch nicht.
Die Gruppen waren sich im Allgemeinen einig darüber, dass spontane Zusammentreffen und kurze Gespräche – Huddle (Zusammenstecken der Köpfe) und Chat (Plauderei) im Jargon von Living Office – ein wichtiger Teil der Arbeit von jedem bei Harry's sind. Allerdings wurden Gruppen wie das Kreativteam, die eine gewisse Abgeschiedenheit zur effektiven Erledigung und zum Nachdenken über ihre Arbeit benötigen – also Create (Kreation) und Contemplate (Reflexion) – vom vorhandenen Raum nicht unterstützt.
„Heute gibt es keine Grenzen. Wir brauchen Räume für die Zusammenarbeit, aber auch Räume, in denen wir alleine arbeiten und einige Stunden Ruhe haben können. Wenn unsere neuen Räumlichkeiten eine Balance dafür schaffen, werden wir wohl produktiver werden.“
„Heute gibt es keine Grenzen. Wir brauchen Räume für die Zusammenarbeit, aber auch Räume, in denen wir alleine arbeiten und einige Stunden Ruhe haben können. Wenn unsere neuen Räumlichkeiten eine Balance dafür schaffen, werden wir wohl produktiver werden.“
- Scott Newlin
EIN BÜRO ENTSTEHT
Nachdem klar war, welche Tätigkeiten für die einzelnen Teams am wichtigsten waren, war Harry's bereit für den letzten Schritt des Discovery-Prozesses: die Wahl der Arbeitsumgebungen, die die Arbeit am besten unterstützen würden.
Living Office bietet zehn verschiedenartige Arbeitsumgebungen für die Arbeit von Einzelpersonen und Gruppen an. Die richtige Mischung dieser Arbeitsumgebungen, die dann strategisch in der Bürolandschaft positioniert werden, kann das Beste in Mitarbeitern und Unternehmen hervorbringen.
Die Fokusgruppen von Harry's mussten in diesem Schritt einen Entscheidungsbaum für Arbeitsumgebungen nutzen – ein interaktives digitales Tool, das anhand von Ja/Nein-Fragen die Arbeitsumgebungen festlegt, die die wichtigsten Tätigkeiten unterstützen. Anschließend untersuchten die Gruppen mögliche Anordnungen ihres Raums. Diese Anordnungen umfassten eine Mischung von Arbeitsumgebungen für Gruppen wie für Einzelpersonen, so zum Beispiel spezielle Team-Hives (Bienenstock) für den einfachen Übergang von der Individual- zur Gruppenarbeit, benachbarte Coves (Bucht), in denen sich kleine Gruppen für Gespräche oder Projektarbeit treffen können, und Haven (sicherer Ort), d. h. abgeschlossene Bereiche, in die sich Mitarbeiter für Telefonate oder konzentrierte Arbeit zurückziehen können (keine Gespräche mehr im Treppenhaus!).
Diese Szenarien halfen den Architekten und Designern bei der Planung des neuen Büros – ein Prozess, den WHY im nächsten Artikel dieser Serie behandeln wird. Schauen Sie bald wieder bei uns vorbei, um zu erfahren, wie die im Verlauf des Living Office Discovery Process℠ gewonnenen Erkenntnisse in einem Büro umgesetzt wurden, das dem Team von Harry’s nicht nur zu einer besseren Zusammenarbeit verhilft, sondern auch Talente anzieht, die zum Wachstum des Unternehmens beitragen werden.